Die "Begnadigung" wird hier als Schlüsselbegriff vorgeschlagen, um das Thema "Erinnern und Vergessen" anzugehen. Der zeitgeschichtliche Ausgangspunkt besteht in der Geburt der Italienischen Verfassung. Das Inkrafttreten des Statuto albertino (1848) stellt ein Ereignis von zentraler Bedeutung dar, bei dem die Rechtsgelehrten damit befasst waren, auch der Mildtätigkeit eine juristische Form zu geben. Zahlreiche Knotenpunkte gilt es zu lösen: von der Rechtsnatur des Begriffs, über die Frage der Gnadeninhaberschaft, bis zu den technisch-juristischen Grenzen der drei Instituten der Mildtätigkeit (die Gnade, der Straferlass, die Amnestie) die mit den neuen, in den 'modernen' Staaten vorherrschenden Grundsätzen in Einklang sein sollen. Auf diese Weise kommt das vergessen machende Potential der Amnestie zu Tage. Auch wenn dieser Charakter von Anfang an der Lehre offenkundig war, findet er nur schwer in die Verfügungen des Rechtsgebers und ebenso in die Handhabung der Instituten Eingang. Frankreich, Italien und Deutschland müssen, zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Weise, dieselben Probleme in Angriff nehmen und einer Lösung zuführen: der Praxis der Begnadigungsformen ein juristisches Fundament zu geben. Mit einer vergleichenden Perspektive könnte man behaupten, dass in Frankreich eine größere Bereitschaft zu einem elastischen Umgang mit der Anwendung der 'Begnadigung' herrsche. In Italien tritt eine Distanz zwischen Lehre, Gesetzgebung und Praxis auf, und somit eine Mehrdeutigkeit der Begriffe, die nur mit dem Aufkommen der republikanischen Regierung zu einer Lösung kommt. In Deutschland zeigt sich eine ähnliche Situation, zweischneidig und umstritten, mit einem heftigen Widerstand gegenüber der Anwendung des Wortes Amnestie im Sinne von Abolition (auch wenn es sich um einen Begriff französischen Ursprungs handelt: gemäß den lettres d'abolition, die bis zur Revolution üblich waren). Diese Haltung, einschließlich der Zurückweisung der Anwendung von Sonderrechten, zeigt die Komplexität der Erforschung eines juristischen Fundaments der Strafmilderung auf, aber vielleicht ist es auch ein Hinweis auf die Ablehnung des vergessen machenden Potentials der Amnestie. Trotz der begriffstechnischen Klarheit bleiben die unterschiedlichen Institute der Mildtätigkeit weiterhin in dem nicht differenzierten Begriff der "Begnadigung" eingeschlossen; es tritt hier eine begriffliche Mehrdeutigkeit auf, die in mancher Hinsicht gewollt, in anderer Hinsicht unvermeidlich ist. In der Tat handelt es sich bei dem Institut der Begnadigung um eine unerlässliche Regierungsmaßnahme, die nach Gutdünken angewandt wird, gerade auch weil begrifflich bestimmende Grenzen im wirklichen und eigentlichen Sinne fehlen. Auch die Grenzen des "Vergessens", das in der Amnestie eingeschlossen liegt, sind nur vage angedeutet und überlassen so der zufälligen politischen Zweckmäßigkeit die "Macht", "zu erinnern oder zu vergessen". Die wissentliche Mehrdeutigkeit der konstitutionellen Vorschriften und die fehlende gesetzliche Regelung ermöglichen es, der "Begnadigung", immer im Rahmen des juristisch Legitimen, die unterschiedlichsten Inhalte zuzuordnen. Es ist daher möglich, von einer grazia amnistiante zu sprechen oder die Amnestie als eine individuelle Maßnahme zu behandeln. Nur die Beobachtung der Anwendung der Instituten kann das Bild vervollständigen und den tatsächlichen Inhalt der "Begnadigung" und seines vergessen machenden Potentials offenbaren.
Gnade und Vergessen im 19. und 20. Jahrhundert: ein "Einschlafen" des Prinzips der Gewaltenteilung?
STRONATI, MONICA
2007-01-01
Abstract
Die "Begnadigung" wird hier als Schlüsselbegriff vorgeschlagen, um das Thema "Erinnern und Vergessen" anzugehen. Der zeitgeschichtliche Ausgangspunkt besteht in der Geburt der Italienischen Verfassung. Das Inkrafttreten des Statuto albertino (1848) stellt ein Ereignis von zentraler Bedeutung dar, bei dem die Rechtsgelehrten damit befasst waren, auch der Mildtätigkeit eine juristische Form zu geben. Zahlreiche Knotenpunkte gilt es zu lösen: von der Rechtsnatur des Begriffs, über die Frage der Gnadeninhaberschaft, bis zu den technisch-juristischen Grenzen der drei Instituten der Mildtätigkeit (die Gnade, der Straferlass, die Amnestie) die mit den neuen, in den 'modernen' Staaten vorherrschenden Grundsätzen in Einklang sein sollen. Auf diese Weise kommt das vergessen machende Potential der Amnestie zu Tage. Auch wenn dieser Charakter von Anfang an der Lehre offenkundig war, findet er nur schwer in die Verfügungen des Rechtsgebers und ebenso in die Handhabung der Instituten Eingang. Frankreich, Italien und Deutschland müssen, zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Weise, dieselben Probleme in Angriff nehmen und einer Lösung zuführen: der Praxis der Begnadigungsformen ein juristisches Fundament zu geben. Mit einer vergleichenden Perspektive könnte man behaupten, dass in Frankreich eine größere Bereitschaft zu einem elastischen Umgang mit der Anwendung der 'Begnadigung' herrsche. In Italien tritt eine Distanz zwischen Lehre, Gesetzgebung und Praxis auf, und somit eine Mehrdeutigkeit der Begriffe, die nur mit dem Aufkommen der republikanischen Regierung zu einer Lösung kommt. In Deutschland zeigt sich eine ähnliche Situation, zweischneidig und umstritten, mit einem heftigen Widerstand gegenüber der Anwendung des Wortes Amnestie im Sinne von Abolition (auch wenn es sich um einen Begriff französischen Ursprungs handelt: gemäß den lettres d'abolition, die bis zur Revolution üblich waren). Diese Haltung, einschließlich der Zurückweisung der Anwendung von Sonderrechten, zeigt die Komplexität der Erforschung eines juristischen Fundaments der Strafmilderung auf, aber vielleicht ist es auch ein Hinweis auf die Ablehnung des vergessen machenden Potentials der Amnestie. Trotz der begriffstechnischen Klarheit bleiben die unterschiedlichen Institute der Mildtätigkeit weiterhin in dem nicht differenzierten Begriff der "Begnadigung" eingeschlossen; es tritt hier eine begriffliche Mehrdeutigkeit auf, die in mancher Hinsicht gewollt, in anderer Hinsicht unvermeidlich ist. In der Tat handelt es sich bei dem Institut der Begnadigung um eine unerlässliche Regierungsmaßnahme, die nach Gutdünken angewandt wird, gerade auch weil begrifflich bestimmende Grenzen im wirklichen und eigentlichen Sinne fehlen. Auch die Grenzen des "Vergessens", das in der Amnestie eingeschlossen liegt, sind nur vage angedeutet und überlassen so der zufälligen politischen Zweckmäßigkeit die "Macht", "zu erinnern oder zu vergessen". Die wissentliche Mehrdeutigkeit der konstitutionellen Vorschriften und die fehlende gesetzliche Regelung ermöglichen es, der "Begnadigung", immer im Rahmen des juristisch Legitimen, die unterschiedlichsten Inhalte zuzuordnen. Es ist daher möglich, von einer grazia amnistiante zu sprechen oder die Amnestie als eine individuelle Maßnahme zu behandeln. Nur die Beobachtung der Anwendung der Instituten kann das Bild vervollständigen und den tatsächlichen Inhalt der "Begnadigung" und seines vergessen machenden Potentials offenbaren.File | Dimensione | Formato | |
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